1 Dollar-Tour

17 September 2012

englishdeutsch

Das Monsterfrühstück nach der Nacht auf der Farm bestand aus Pancakes mit Ahornsirup, Galiamelone, gebrutzeltem Schinkenspeck, Bacon, gewürzten Wurst-Patties, Hash Browns, endlos Spiegeleier (“Farmeier frisch von gestern”), Toast, drei verschiedenen Marmeladen (teilweise selbstgemacht), Kaffee und Saft. Nachdem die obligatorischen Vegetarierwitze gerissen waren, folgten zwei äußerst unterhaltsame Stunden mit Betty und Richard. Wir tauschten unter anderem Reiseerfahrungen (die beiden waren bspw. in Schweden und Brasilien) und Einblicke in die Sozialversicherungssysteme der jeweiligen Heimatländer aus. Wie immer bei solchen Diskussionen stellen wir fest, daß bei uns vielleicht nicht alles rosig, es andernorts aber oftmals viel schlimmer ist. Am Vorabend hatten wir noch gewettet, ob beide eher Demokraten oder Republikaner sind – ein überzeugtes “Sarah Palin is cool” klärte auch diese Frage auf.

Da wir bereits in New Jersey verabredet und zudem schon spät dran waren, mussten wir es bei der kurzen Begegnung mit Betty und Richard belassen. Eine Nacht auf der Farm war ohnehin viel zu kurz, von daher stimmig. Nicht, dass der nächste Trip unbedingt wieder an die Ostküste führen müsste, aber ein paar Tage auf der Hope and Pryde-Farm stehen chill-out-Suchenden nicht schlecht zu Gesicht. Das Kätzchen wird dann allerdings weniger fluffig sein. Oder vom Bluthund gefressen, den wir nur hinter Gittern sahen. Die Interstate 78 hatte uns wieder und mit mittels Tempomat knapp über der Höchstgeschwindigkeit von 65 Meilen pro Stunde fixiertem Gasfuß zippten wir in eindreiviertel Stunden nach Piscataway in New Jersey. Dort wurden wir auch schon von Ceil und Warren erwartet.

Genauer: von Warren und Hund Jockey, Ceil begrüsste uns nur kurz und verabschiedete sich zum Zahnarzt. Warren ist selbständiger Wirtschaftsprüfer im Ruhestand (76 Jahre) und fröhnt neben seinem Hobby College-Football (sein Team sind die Rutgers Scarlet Knights) der Ahnenforschung. Er selbst ist deutsch-dänischer Abstammung, seine Forschung erstreckt sich jedoch weit über seine eigenen Ahnen hinaus. So kam es dann auch, dass er bereits vor mehr als 15 Jahren begann, sich mit der Geschichte des bereits erwähnten Philipp Kühlthau aus Oberzell auseinanderzusetzen, der auszog um in der Neuen Welt sein Glück zu suchen & dem Vernehmen nach auch fand. Nach einigen Jahren des Briefkontakts in die Heimat von Philipp Kühlthau besuchte er Oberzell im Jahre 2000. Zwei Jahre später webten wie zuvor erwähnt Großonkel Walter und Bruder Michael das Freundschaftsband enger und revanchierten sich mit einem Besuch in New Jersey. Nun war es an uns, diese Freundschaft zu erneuern. Dafür blieben uns ziemlich genau 25,5 Stunden, die intensivst genutzt wurden.

Nach der Ankunft in Milltown und einem schnellen Mittagessen bei Five Guys, welches unsererseits anlässlich des opulent nachwirkenden Farmfrühstücks auf Coke Zero und Erdnüsse (gibt’s dort für lau, das bessere Fast Food) reduziert war, begann die “1 Dollar-Tour” (O-Ton Warren) mit einer kurzen Rundfahrt über einen Teil des Campus der Rutgers University, wo Warren seinen Abschluss gemacht hat und auch seine Tochter studierte. Die Verbundenheit mit seiner Alma Mater war deutlich zu spüren, Warren war auf dem Laufenden über Baumaßnahmen und seine Bar, die wir am Abend sehen sollten, platzte vor lauter Memorabilia mit dem roten “R”. Vom Campus in New Brunswick fuhren wir dann nach Milltown, wo Warrens erstes Haus steht, in der Kuhlthau Avenue 29. Dieses Haus ist derzeit unbewohnt, Warren plant einen Teil zu vermieten und trifft hierzu schon Vorbereitungen. Der andere Teil bleibt sein “Hobbykeller” (“man cave”, zu deutsch “Männerhöhle”), wo er vorrangig der Genealogie nachgeht und Ceil nicht zur Last fällt. Das Haus insgesamt wäre für etwa 450’000 Dollar zu haben, derzeit etwa 360’000 Euro – Fahrzeit nach New York City ca. eine Stunde. Hier ein Bild von der Rückansicht des Anwesens:

Von 29 Kuhlthau ging es in die St. Paul’s Church, natürlich im klimatisierten Van. Von der Kirche existieren Aufnahmen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der die Auswanderer – aus Philipp Kühlthau war mittlerweile vermutlich bereits Philipp Kuhlthau geworden – sich als Angekommene darstellten. In der Kirche finden sich zahllose Namen aus der Heimat, unter anderem wurden Bänke (“in memory of Edward S. Kuhlthau presented by his wife A. Elisabeth Kuhlthau 1949”) und Bleiglasfenster (“in memory of William and Sarah Kuhlthau donated by their children”) gestiftet. Im Gästebuch fanden sich auch noch die Namen der beiden Oberzeller, die 2000 hier einem Gottesdienst beiwohnten. Nachdem uns Merchandising verabreicht wurde fuhren wir gemeinsam zu Schwendeman’s Taxidermy, einem Tierpräparator in dritter Generation und ein Kuriositätenkabinett sondergleichen. Der Inhaber Bruce ist in “seinen” Kreisen so etwas wie ein Promi, kam er nicht zuletzt schon in der New York Times und im New Yorker zu Ehren. Papa David arbeitete in seiner aktiven Zeit als Chef-Taxidermist im American Museum of Natural History in New York und verbringt seinen Ruhestand heute noch mit der Beaufsichtigung seines Juniors, der derzeit an der Restaurierung eines weißen Löwen für ein New Yorker Hotel arbeitet. Hier die Außenansicht des Ladens (wirkt von innen deutlich größer):

Bruce ist auch Mitglied der Milltown Historical Society. Das Museum, der eigentliche Anlass des Besuchs, liegt passenderweise direkt auf der anderen Straßenseite, so dass wir gewissermaßen eine Privatführung bekamen. Es besteht aus zwei alten Wohnhäusern, die mit mehr oder minder interssantem Gut aus den alten Tagen ausgestattet sind. Der Ort beherbergte über viele Jahre eine Gummiwarenfabrik, die eine zeitlang zum Michelin-Konzern gehörte. Aus den Anfangstagen sind ein Michelin-Männchen vorhanden, interessanter jedoch waren die Milchflaschen mit “Ochs”-Prägung und “Kuhlthau”-Deckel sowie das Werbeschild von C. W. Kuhlthau (“Milltown’s busiest store. Quality, Service & Price”). Nach dem Museumsbesuch war es Zeit für Fotoshooting von Straßennamen. Wir begnügten uns mit den Kuhlthau und Ochs Aves. und duplizierten zwischendurch das Foto von Michael und Walter am Ortsschild. Der anschließende Besuch auf dem Friedhof Van Liew Cemetry führte uns dann auch zum Grab von Philipp Kuhlthau. Auf dem Friedhof finden sich reichlich Kuhlthaus und andere Namen aus der Heimat von Philipp (u.a. Baier), teilweise sogar mit Inschriften in Deutsch. Man fühlte sich bisweilen nicht wie in Übersee. Hier ein Bild vom Grab des Philipp Kuhlthau und seiner Frau Catherine, vermutlich geborene Katharina Klein:

Bevor wir zurückfuhren nach Piscataway zeigte uns Warren noch seinen Cadillac in der Garage von Frazer, Evangelista & Co. LLC. Perfektes Hochzeitsauto, aber zu spät und zu weit weg. Wir zählen nochmal nach. Drei Häuser, fünf Autos. Scheint ein paar ganz gute Entscheidungen getroffen zu haben. Den Abschluss des nicht ganz unanstrengenden Tages begannen wir dann mit einem Beck’s an der heimischen Bar, gefolgt von einem Abendessen, zu dem wir immerhin den Wein beisteuern durften. Kaffee, Eis und jede Menge Geschichten rundeten den Tag ab. Wir nahmen noch ein zweites Beck’s, zu viele Eindrücke für elf Uhr abends. Und tatsächlich, in der Nacht hielten die vielen Eindrücke einen von uns mehr als eine Stunde vom Schlaf ab.

2 Responses to “1 Dollar-Tour”

  1. M+V Says:

    Den Anfang mit einem Haus und einem Auto habt ihr doch schon gemacht… Wir werden mal weiter sehen.

  2. Michel Says:

    Das ist die wunderbare Geschichte der Oberzeller Auswanderer, die 1848/52 begann und bis heute fortdauert. Es liegt an uns, diese Verbindung aufrechtzuerhalten und nicht der Versuchung zu unterliegen, aus vorgeschobenen Gründen (“keine Zeit”, “kein Englisch”) diese einmalige Familiengeschichte zu ignorieren, gar für immer zu beenden.
    Onkel Walter stellte kurz vor unserer Abreise im Juni 2002 die Überlegung an, wie sich unsere Vorfahren in der 1850er Jahren wohl gefühlt und was sie gedacht haben mögen, als sie sich zum letzten Mal auf der “Haawicher Höh” in Blickrichtung Heimat umgedreht haben, um dann aber schlagartig weiter gen Norden voranzukommen und das schöne Oberzell für immer aus den Augen zu verlieren.

    Daher rufe ich euch (allen) zu:
    Milltown 2013, wir seh’n uns wieder!

Leave a Reply